Nie wieder Krieg

Anfang des Jahres 2003, früher Nachmittag, saukalt.
Stefan (ein Freund, den Sie auch gerne hätten, jede Wette, aber freiwillig gebe ich ihn nicht mehr her) und ich fuhren in seinem Benz gen Düsseldorf, um, bevor es gänzlich zu spät war, ordentlich auf den Bush zu klopfen. Bush war zwar nicht anwesend, aber die Live-Übertragung von der Massenkundgebung sollte ihm das Abendessen im Oval Office gehörig verleiden, hofften wir.
Was hatten wir nicht alles über Saddam erfahren müssen, den ‚Despoten aus Bagdad', den ‚Hitler vom Tigris', den Unzögling, der nach gedeihlicher Aufzucht und Hege durch unsere amerikanischen Freunde in die Pubertät gekommen war und seinen politisch Erziehungsberechtigten seitdem auf der Nase und den Ölfeldern herumtanzte. Das halbe Land mit Tipis und Wagenburgen vollgestellt, in denen der granatenmäßige Nachwuchs der Al-Qaida herangezüchtet wurde. Anreicherungsfähiges Uranmaterial - gegen jeden Zugriff durch UN-Waffeninspekteure gefeit -, versteckt in Husseins Alibert. Und allerorten knatterten irakische Studentinnen auf ihren Rollern durchs Zweistromland, die aber nur so taten, die scheinheiligen Backfische, wusste man doch, dass sie im Gucci-Kulturbeutel auf dem Sozius eine solarzellenbetriebene Chemiewaffenproduktionsanlage mit sich führten, die im Bedarfsfall mit zwei geübten Handgriffen aufgebaut war.
Das hat alles die CIA herausgefunden. So einen schönen Geheimdienst möchte ich auch mal haben.
Wir parkten den Wagen in Angermünd, um den Rest mit Bus und Bahn hinter uns zu bringen, was in unserem speziellen Fall die gediegene Zwischenlösung bedeutete: Straßenbahn.
Zwei Gründe hierfür.
Grund 1: Ohne GPS-Satellitennavigation scheitert der Ortsunkundige an Düsseldorf wie die Türken vor Wien. Irgendwann biegt man nämlich unweigerlich in die erste lausige Einbahnstraße ein und verfranzt sich prompt in einem Labyrinth, aus dem man ohne elektronische Hilfe erst kurz vor Erteilung der Sterbesakramente wieder herausfindet - und selbst bei den hilfsbereiten Damen aus dem All wurden schon Fälle beobachtet, in denen es zu leichtem Stottern und Versagensängsten kam.
Grund 2: Seid umschlungen, Millionen! Eine Demo gegen den Irakkrieg und gegen Bush, da war ein Sturmlauf der Massen auf die Stadt zu erwarten, wie es ihn nur damals bei den Türken vor Wien gegeben hatte. Parkplatz kannste vergessen.
Wir stiefelten - ‚dingelingedong, dongelingeding' - in eine wunderliche Mischung aus Trinkhalle und Fahrkartencenter, weil ich (im Gegensatz zu Stefan, der eine Monatskarte sein eigen nannte) noch eines Billetts bedurfte, was ich trotz der verhältnismäßig kurzen Fahrzeit zu kaufen gedachte, soviel Zivilcourage muss sein.
"Einmal Zentrum, bitte", sagte ich zu der wechseljährigen Verkaufsmamsell.
"Hin und zurück?"
"Hin und zurück. Was macht das?"
"Einsfuffzich die Fahrt."
Während ich noch dachte, drei Euro: geritzt!, blickte die Gute an mir vorbei zu Stefan, und damit nahmen die mathematischen Turbulenzen ihren Lauf.
"Sie könn´ aber auch Sparticket nehmen", klärte sie mich auf.
Könn´? Muss! War ja Sparticket; nur die wenigstens unter uns haben Onkel Dagobert in der Familie.
"Was kost´ das?"
"Dreieurofuffzich."
"Die Einzelkarten kosten zusammen aber nur drei."
Mild wie ein Camembert lächelte sie mich an. "Das Ticket gilt für zwei Personen."
"Mein Freund hier hat eine Monatskarte."
"Aber es ist ein Sparticket."
"Wo spar ich denn was, wenn ich fünfzig Cent drauflege, hm?", appellierte ich an ihr Zahlenverständnis.
Sie hörte mir überhaupt nicht zu. "Damit können Sie den ganzen Tag in der Stadt rumfahren."
"Ich will aber nicht den ganzen Tag in der Stadt rumfahren. Ich will nur einmal hin und nachher dann wieder zurück."
"Also einmal das Sparticket, ja?"
Für einen kurzen Moment wähnte ich mich am Set von Gottes vergessene Kinder II - Hear harder.
"Nein", sagte ich, "neinneinneinneinnein. Hören Sie? Nein! Ich möchte nur zwei Fahrkarten. Einfache. Eine für hin, eine für zurück."
"Müssen Sie ja wissen", gab sie schnippisch zurück. Und der Blick erst, als wollte sie sagen: "Kein Geld für Rasierklingen, der Spacko, aber reisen wie Graf Koks."
Drei Euro gelöhnt, mithin fünfzig Cent gespart, und dann - ‚dingelingedong, dongelingeding' - ging es auch schon ‚uff de rheinsche Strasebahne' los. Weil unterwegs gar nicht so viele Haltstatione im Wege herumstanden, mussten wir, kaum die zerschlissenen Sitzpolster angewärmt, auch schon wieder aussteigen.
Düsseldorf-Zentrum, Kulminationspunkt altbierischer Braukunst, Hüpfburg sonnenverbräunter Tussen, der Nürburgring für krawattierte Porschebengels. Eine Welt, in der man nicht leben möchte.
Aber heute war Demo und der Rest egal. Am Burg-Platz, von dem aus die Bewegung sich in Bewegung setzen sollte, dann die spontane Ernüchterung: ein übersichtliches Häuflein Verirrter stand und lümmelte beinander. Einige hatten selbstgebastelte Transparente dabei, andere Gitarren und Hunde.
"Ist noch ´ne Stunde hin", meinte Stefan.
Genau das war auch meine Hoffnung: das ist nur die Vorhut, der Haupttrupp übt noch in den Rheinwiesen.
Weil es den Magen nicht füllt, wenn man sich die Beine in den Bauch steht, zogen wir noch einmal von dannen, um uns zu laben und zu labern. Maulsperrenbulette bei McDonald´s kam nicht in die Tüte, also Pizza.
Das erste italienische Einkehrhaus war die Wucht. Ein Portal wie beim Neuen Palais in Sanssouci, unaufdringliches, aber edles Ambiente, edler nur noch die Preise auf der Speisekarte. Was war wohl günstiger? Pizza Margherita Maxi, Cola, Tischverzehr, oder den Jungs an der längsten Theke der Welt nebenan eine Lokalrunde spendieren?
Gerhard Schröder, frisch vom Fotoshooting bei einem Modemagazin angerauscht, trat an unseren Tisch, um die Bestellung aufzunehmen. Gar nicht wahr. Nur ein Kellner. Aber todschick.
"Wir gucken noch", komplimentierten wir ihn davon.
Er wird später noch mal nach uns gesehen haben, muss er ja, aber da saßen wir längst im Pizza Hut. Portal wie bei Karstadt am Homberger Markt, aufdringliches Ambiente und lärmende Blagen. Die Preise waren trotzdem edel. Wir empfahlen uns.
Rein zum nächsten Asiaten. Zwei Teigtaschen mit Gemüse und Fleisch für ´n Appel und ´n Ei. Noch kurz den Urinstein getauft, und dann ging es wieder raus auf die Straße.
Der ersehnte Haupttrupp aus den Rheinwiesen hatte sich mittlerweile eingestellt, so dass es mit der geballten Stimmgewalt aus geschätzten 100 Kehlen endlich losgehen konnte.
Irgendwie gingen wir nicht richtig los, und schon gab es Mecker von der Dame mit dem Megaphon.
"Nicht so nah beieinander. Ihr müsst mehr Platz zwischen euch lassen, dann sehen wir nach mehr aus."
Es wirkte gespenstisch koordiniert, wie die Alt- und Jungvorderen plötzlich in Stechschritt verfielen, die Hinteren praktisch eine Zwischenrast einlegten, während links und rechts von uns die Leute wie auf dem Kettenkarussell auseinanderwirbelten. Aber des Weibes List hatte Erfolg: zahlenmäßig grad noch Fähnlein Fieselschweif, jetzt schon Saurons Orks auf dem Marsch nach Minas Tirith, das machte gleich ganz was anderes her.
Stefan und ich blieben auf Rufweite zusammen, das heißt, wenn es nicht gerade wieder so laut war, dass man seine eigenen Parolen nicht mehr verstand. Die Dame am Megaphon deckte uns sowas von ein, dagegen war Norbert Dickel im Westfalenstadion ein stimmloses Nichts: "Nie wieder Krieg! Stoppt Bush! Kein Krieg für Öl! Nie wieder Krieg!"
"Kein Krieg für irgendwas!", brüllten Stefan und ich mit der Kraft der zwei Stimmbänder, aber ich glaube, das haben wir gar nicht gesagt. Würden wir aber sofort unterschreiben.
Unserem Zug folgte mucksmäuschenstill ein Einsatzwagen, und wäre nicht das Blaulicht gewesen, hätte keiner was bemerkt. Umso extrovertierter agierte sein Kollege auf dem Motorrad vorneweg, der störende Verkehrsteilnehmer aus dem Weg räumte: "Bitte machen Sie die Straße frei!" Recht so, wofür waren wir denn sonst angemeldet? Zwei oder drei Straßen waren es, glaube ich, keiner hat uns die Vorfahrt genommen, hat er also prima gemacht.
Die Autofahrer haben ohne Murren gewartet, bis wir vorbeigetrödelt waren. Zehn Minuten Verspätung, wo es doch um Leben geht, da hat man sich nicht so.
Die Sogwirkung, die wir uns von unserem Zug versprochen hatten, entfaltete sich übrigens nicht, obwohl die Dame mit dem Megaphon sich argumentativ völlig verausgabte:
"Bitten unterstüzten Sie uns! Stoppt Bush! Schließen Sie sich uns an! Nie wieder Krieg!"
Dabei weiß doch jeder, dass der letzte geglückte Anschluss, dem wir Deutschen beigewohnt haben, auf das Jahr 1938 zurückgeht (die DDR war kein Anschluss, sondern ein Beitritt, sogar mit Gebiet, aber weil Beitritt nicht gleich Arschtritt ist, haben die den Dicken wiedergewählt).
Sie hasteten in der keimenden Dämmerung alle an uns vorbei, wobei die eine oder der andere uns mit einem irritierten Blick bedachte: Damen aller Jahrgänge, mit Einkaufstaschen behängt wie die Kofferträger am Hauptbahnhof von Bombay; gescheitelte Männer, umhüllt von nadelstreifigem Zwirn, in der rechten Hand ein Aktenköfferchen, das ihnen die Mutti oder, wenn der Bub schon groß war, die Ersatzmutti am frühen Morgen mit Leberwurstschnittchen und zwei Capri-Sonne befüllt hatte. Der Typ Manager mit wahnsinnig viel Verantwortung, der niemals nie Zeit hat, weil er furchtbar viel arbeiten muss. WENN IHR NICHT DEN LIEBEN LANGEN TAG LANG IN UNSINNIGEN MEETINGS KEKSE FRESSEN WÜRDET, so möchte man ihnen ins Stammbuch schreiben, DANN KÄMT IHR AUCH MAL ZU WAS!
Aber Hauptsache über uns grinsen, die wir uns Nase und Arsch abfroren für Menschen, die wir gar nicht kannten.
"Burschen", hab ich damals bei mir gedacht, "gäbe es so etwas wie den Posten des Internationalen Arbeistministers, und den bekleidete ich höchstselbst, ich vermittelte euch für die kommenden Monate eine Vollzeitanstellung in Saddam Husseins Palastwache. Dann würde euch die Kauleistenausstellung aber ganz fix vergehen."
Unser Zug endete schließlich auf einem kleinen Platz vor einem großen Kaufhaus, dessen beider Namen mir nicht erinnerlich sind. Wir nahmen - the eyes straight to the Eingang - Aufstellung. Dann wurden auf DIN-A4 kopierte und zusammengetackerte Gesangbücher ausgeteilt, und weil es nicht genügend gab, durften wir das, was in der Schule streng verboten gewesen war: beim Nachbarn mit reingucken.
Ich guckte bei Stefan mit rein, dann überkam es uns auch schon und wir sangen "We shall overcome". Wir? Stefan und die meisten Umstehenden sangen, dass es eine Lust war, aber ich bewegte nur tonlos die Lippen. Ich mag es nicht, in der Öffentlichtkeit zu singen. Was zu Hause, mit der Haarbürste in der Hand vorm Spiegel, nach beschwingter Nachtigall klingt, erfährt auf der Straße eine jähe Wandlung hin zu Chewbaccas Brunftgeschrei.
Apropos Nachtigall: es gab auch ein Lied mit, über oder anlässlich einer Nachtigall, und ich glaubte schon, ihr trapsen zu hören, da war auch schon Schluss mit der Veranstaltung und wir gingen stummen Gebetes davon.
So eine schöne Demonstration.
Alles für die Katz.

Moers, 11. August 2006

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