Mach mir den Scharping, Angie!

Na, haben Sie auch manchmal so Schwierigkeiten, Brutto und Netto auseinanderzuhalten? Das ist aber auch kompliziert geworden mit der Zeit. Hauptschüler können das gar nicht mehr leisten, denen gehen doch schon beim Abzählen die Finger aus, da haben die noch nicht mal die Lohnsteuer in Abzug gebracht. Ein Abiturient ist vielleicht noch in der Lage, die Zahlen in den Taschenrechner einzugeben. Da kommt dann sogar etwas raus, richtig schön mit zwei Stellen hinterm Komma, wie im echten Leben. Blöderweise reicht eine formalmathematisch korrekte Vorgehensweise aber nicht aus, nein, die Zahlen gehören auch noch an die richtige Stelle. Wenn jetzt zum Beispiel die Differenz eine negative Zahl ist, dann weiß man gleich:
Scheiße, falsch!
Ich fürchte, in diesen lichten Höhen der Mathematik können sich nur Edis kluge Bevölkerungsteile in Bayern behaupten. Vielleicht noch Lohnbuchhalter aus aller Herren Bundesländer, aber die haben das jahrelang gelernt.
Kohls Mädchen aus der Uckermark, die jetzt im Bundeskanzleramt abhängt, ist keine Lohnbuchhalterin. Mit Bayern hatte die auch noch nie was an der Frisur. Und da ist es dann passiert.
Am Sonntag, den 31. Juli 2005, sagte sie beim Sommerinterview des ARD-Magazins "Bericht aus Berlin" wörtlich: "... der interessante Effekt, den wir jetzt haben, ist ja, dass für alle Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer - und für die gilt ja die Riester-Rente - die Bruttolöhne um ein Prozent sinken, wenn wir die Lohnzusatzkosten senken."
Wo sie recht hat, hat sie recht. Der Effekt ist so interessant, der ist noch gar nicht erforscht. Ich vermute, die Angie hat diesen Effekt beim nächtlichen Sterngucken aufgetan, irgendwo in der Krümmung von Raum, Zeit und Hirn.
Dank Angie weiß ich Bescheid, was ich in Zukunft tun werde: wenn wieder mal ein Politiker auf die Idee kommen sollte, eine Senkung der Lohnzusatzkosten zu fordern, dann schreib ich dem direkt Žne Mail. Ich bin doch nicht bescheuert, da sinkt doch dann mein Bruttolohn, und hinten kommt weniger raus. Das ist doch arbeitnehmerfeindliche Politik, wie soll denn da die Binnenkonjunktur wieder anspringen? Warum streichen wir die Lohnsteuer nicht gleich ganz aus dem Programm? Stattdessen gibt es nur noch Sozialabgaben, je höher, desto besser. Und wozu gibt es überhaupt noch den Arbeitgeberanteil zur Sozialversicherung? Weg damit! Das übernehm alles ich. Soviel Bruttozuwachs kann ich in normalen Gehaltsverhandlungen gar nicht durchdrücken. Und mein Chef spart Geld.
So einen dumpfen Blödsinn hätte ich seinerzeit mal in den BWL-Klausuren zu Papier bringen sollen, das hätte doch sofort eine Spontan-Exmatrikulation nach sich gezogen. Was wäre mir dann noch geblieben? Ich aber beschloss, Politiker zu werden? Nee, oder?
Das muss man sich mal vorstellen: die Merkel ist Physikerin. Die hat sogar promoviert, die Frau Doktor. Da muss die doch rechnen können. Meine Lebensgefährtin studiert ja auch Physik (womit sich aber auch schon sämtliche Ähnlichkeiten erschöpfen, Halleluja!), und eines Tages, wie sie so dasaß und lernte, ist es über mich gekommen und ich hab ihr von hinten über die rechte Schulter geguckt, mitten rein ins Buch. Mathematik für Physiker, soŽn Schinken. Was da für Formeln drinstehen, das glaubt einem doch keiner. All diese wirren Zeichen. Das ist schlimmer als ein Teller mit eingetrockneter arabischer Buchstabensuppe. Ich hätte schon Schwierigkeiten, die alle nachzumalen.
Aber die Physiker, die können das. Die können das sogar ausrechnen. Die sagen einem auf sechzehn Stellen hinterm Komma genau, wie sich die miefenden Photonen im Raum ausbreiten, wenn man nach den leckeren Bratkartoffeln mit Spiegelei ein zufriedenes Bäuerchen macht.
"Ja, aber vielleicht hat die sich nur versprochen", werden Sie jetzt sagen. Richtig. Vielleicht. Vorzeitige geistige Ejakulationen, die kenn ich auch. Wäre ja auch alles nicht so schlimm gewesen, einfach Zewa-Wisch-und-Wech-damit und ab dafür. Aber die Geschichte geht noch weiter.
Das ARD-Interview wurde wie üblich auf www.cdu.de veröffentlicht, und zwar mit dem Vermerk "Im Wortlaut" (!). Und was stand da zu lesen:
"... der interessante Effekt, den wir jetzt haben, ist ja, dass für alle Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer - und für die gilt ja die Riester-Rente - die Bruttolöhne um ein Prozent steigen, wenn wir die Lohnzusatzkosten senken."
Da war wohl Catweazle am Werk. Hatte Angie doch fabuliert, die Bruttolöhne würden um ein Prozent sinken. Glauben die von der CDU etwa an die volkseigene Demenz? Und wenn die schon lügen, warum schneiden die sich nicht eine Scheibe Saumagen von ihrem dicken Vorbild ab und tun es richtig? Die korrigierte Aussage ist nämlich wieder Bockmist, diesmal nur von der anderen Seite aufgeschippt.
Zur Klarstellung: ob die Lohnzusatzkosten steigen oder sinken, ändert nichts an den Bruttolöhnen. Das juckt die überhaupt nicht. Das ist denen total egal.
Ein paar Stündchen später hat dann wieder jemand an der Seite rumgefriemelt, wahrscheinlich einer, der schon mal gearbeitet hat oder ein WiWi-Grundstudiumsstudent beim CDU-Parteizentralen-Praktikum, keine Ahnung, jedenfalls war der Mann vom Fach:
"... der interessante Effekt, den wir jetzt haben, ist ja, dass für alle Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer - und für die gilt ja die Riester-Rente - die Nettolöhne um ein Prozent steigen, wenn wir die Lohnzusatzkosten senken."
Na, geht doch. Da stand übrigens immer noch der Zusatz "Im Wortlaut". Angies Wortlaut änderte sich so kreuzfidel, da musste man alle paar Minuten auf Aktualisieren klicken, um überhaupt am Ball zu bleiben.
Dabei wollten die von der CDU das doch gar nicht, das ist einfach so passiert. Wie hatte der CDU-Generalsekretär Volker Kauder noch am gleichen Tag während einer Pressekonferenz gesagt: "Solide, anständig, korrekt, so muss es auch schon im Wahlkampf zugehen." Und weiter: "Man darf die Menschen auch in den elektronischen Medien nicht hinters Licht führen." Aber da war es schon zu spät, da ging der Spuk auf der CDU-Seite schon um.
Und Angie? Wer jetzt immer noch meint, na und, die weiß es besser, die hat einfach Brutto und Netto mal durcheinandergehauen, das kann im Wahlkampfstress vorkommen, der hole sich die Ausgabe der Illustrierten "Bunte" vom 4. August 2005. Da hat die Angie nämlich ein weiteres Interview gegeben, und das ging so:
Die CDU wolle durch eine zweiprozentige Senkung der Beiträge zur Arbeitslosenversicherung Wachstums- und Beschäftigungsimpulse setzen, sagte sie. Und dann, Zitat der Illustrierten: "Das bedeutet für die Arbeitnehmer 1 Prozent mehr Bruttolohn".
Da beschlägt einem schon mal die Brille, oder?
Kennen Sie eigentlich noch das sozialdemokratische Sedativum Rudolf Scharping? Auch soŽn Experte. Rennrad-Rudi hatte sich 1994 als SPD-Kanzlerkandidat den gleichen Fauxpas gegönnt. Brutto, netto, oder was ist jetzt Trumpf? SPD und Grüne lagen noch im März 1994 weit vor der Koalition, bis Scharping ein paar Worte zur Ergänzungsabgabe für Besserverdienende daherschwatzte und dabei Brutto und Netto nicht auseinanderhalten konnte. Sechs Monate später hatte Kohl die Nase wieder vorn und wir ihn für vier weitere Jahre am Arsch.
Ende August 1994 meinte Theo Waigel auf einer Kundgebung in der Dortmunder Westfalenhalle: "Deutschland kann sich keinen Kanzler leisten, der Brutto und Netto nicht unterscheiden kann."
Am 14. April 1994 hatte bereits Volker Kauder (genau, der Ehrliche von vorhin) im Bundestag seinen Senf zum Scharping-Patzer dazugegeben:
"Wie will ein Mann, der den Unterschied zwischen Brutto und Netto nicht kennt, unser Land in eine gute Zukunft führen?"
Da frag ich mich glatt: gilt das jetzt für alle, oder nur für die Leute mit dem falschen Parteibuch? Aber es ist ja eh müßig. Das Kind ist in den Brunnen gefallen und Angie die Treppe rauf. Bleibt nur zu hoffen, dass sie ihr Wort hält: Rentenversicherungspflicht für Abgeordnete. Das wär doch mal gerecht, und außerdem hätte Angie dann mehr Brutto. SoŽn verantwortungsvoller Job soll sich schließlich lohnen.

Moers, 25. September 2005

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