Die Frühaufsteher
"... Haltestellen sind mit moderater Geschwindigkeit zu durchfahren, die den Fahrgästen ein gefahrloses Besteigen und Verlassen des Kraftomnibusses (KOM) ermöglicht ..."
Geheimes Zusatzprotokoll zum Tarifarbeitsvertrag eines NIAG-Berufskraftfahrers
Das kriegt man aus den Köpfen der Leute nicht mehr raus. Erst strömt alles schnatternd und schnaufend in den Bus hinein und schwärmt nach den besten Plätzen aus. Kaum aber, dass sie sitzen und der Bus in Fahrt kommt, da stehen die ersten auch schon wieder auf. Einerlei, welch Schikanen der Parcours noch birgt, der Gang füllt sich mit Leuten, die in zehn Minuten auszusteigen gedenken. Es ist ein Geschunkel wie sonst nur samstags im Stadl. Die Blondine, die sich auf meine Rückenlehne stützt, fährt mir mit unterarmlangen Stars-and-Stripes-Krallen rhythmisch in den Nacken. Ein in die Fülle gekommener Herr rudert mit üppigem Ausleger nach Gleichgewicht und beschert mir ein periodisches Arschgesicht. In selbiges semmelt mir ein Jugendlicher in einer scharfen Rechtskurve seinen Ellbogen, und zwar, wo er schon dabei ist, mittenmang.
"Schulligung", murmelt er lustlos in meine Richtung.
"Stimmt so, Towaritsch", knurre ich zurück.
Fehlt nur noch die unvermeidliche Oma. Fehlt? Papperlapapp. Da ist sie auch schon, so zuverlässig anwesend, als würde sie allmorgendlich auf dem Betriebshof mitsamt dem Fahrer die Schicht antreten. Die betagte Dame eiert bedenklich in den Knien, nimmt aber in der zweiten Startreihe Aufstellung. Was soll man davon halten? Erloschener Lebenswille? Senile Sitzflucht?
Es ist gar nicht zu ermessen, wie oft ich ein gebrechliches Großmütterchen dabei beobachten konnte, wie es, von den Fliehkräften gepackt, durch den halben Bus katapultiert wurde. Und hätte es sich nicht noch in den Halteschlaufen verfangen oder wäre von eilig herbeihelfenden Händen aufgefangen worden, dann hätte es so manches Mal ein übel zerschundenes Ende an der Plexiglasscheibe gleich hinterm Fahrersitz genommen.
Der Busfahrer aber, dieser altgediente Revoluzzer des Öffentlichen Personennahverkehrs, hält dann doch an der Haltestelle. Alles stößt und schubst und pufft voran. Der Mann könnte ja aus einer gehässigen Augenblickslaune heraus just in jenem Augenblick wieder Gas geben, in dem man grad auf dem Trittsteig steht, und schon knallt man vor versammelter Mannschaft aus dem anfahrenden Gelenkbus heraus mit der Fresse voll auf den Gehsteig.
Unsereiner, der in aller Bärenruhe wartet, bis auch die letzte Bewegungsenergie aus dem Bus raus ist und sich schillernde Hämatome umgewandelt hat, um dann erst aufzustehen und geschmeidig den Bus zu verlassen, erwartet das böse Erwachen. Es ist wie an der Supermarktkasse. Man denkt, ah!, da!, nur drei vor mir, hin, hin, hin ... und dann dauert das.
Die machen das wie Eulenspiegel: verlassen den Bus und bleiben stehen, um des schweren Ausstiegs zu gedenken. Erst mal eine anstecken; fünfzehn Minuten Rauchverbot ... unmenschlich. Erst mal Frisur und Kleider richten, so unsortiert will ja keiner in die Stadt. Erst mal dem quengelnden Dreikäsehoch klarmachen, dass die Mami jetzt aber wirklich erst bei ALDI muss wegen den Waschmittel, und wenn du jezz nich sofort aufhörst, hier so´n Palaver zu veranstalten, dann kannste dir Teuss Ahh Ass für heute abschminken, ham wa uns verstanden?
Jawoll, ham wa. Abschminken, hm? Fang Du schon mal damit an. Nun bin ich von Hause aus ein latent friedvoller Mensch, aber Heiligerstrohsackmachthinnedaihrdoofisverdammtescheißenochmal was ich verstanden habe, ist doch dies: gleich da drüben residiert mein Lieblingstürke, der den weltbesten Döner kredenzt ("bisschen schaaf?" - "Nö!" - "Sosssä?" - "Aber nicht doch!" - "Keine Sosssä?" - Nö!"; das an die All-Inclusive-Maden adressierte Schild über der Kasse mit der gestrengen Mahnung "Extra Wünsche kostet extra!" wurde übrigens in der Zwischenzeit orthographisch überholt, und jetzt kosten Extra Wünsche wieder extra, wie sich das gehört; "Extra Wünsche" muss aber noch; wer mal hin will: ein paar Schritte vom Bahnhof weg, lohnt.). Gleich hinter mir scharrt der uniformierte Chauffeur nervös mit dem Bleifuß. Er sieht seinen Fahr-, ich meinen Speiseplan in Gefahr. Der Mann scheint der letzte Repräsentant des Yedi-Ordens auf Erden zu sein, jedenfalls nimmt er telepathischen Kontakt zu mir auf: "Wenn du Lahmarsch nicht bei drei aus der Karre bist ..."
Die Letzten werden die Ersten sein ... nur woanders. Das Unausgesprochene heißt: Nächste Haltestelle Königlicher Hof. Am anderen Ende der Stadt. Sollte das geschehen und ich dermaleinst sterbenshungrig bis hierher zurückgekrochen sein, dann zieht euch warm an.
Notfalls komm ich bis bei ALDI - und ich mache keine Gefangenen.
Dann hat es ein Ende mit der Frühaufsteherei. Dann gilt nur noch das Motto einer meiner Lieblingswestern: "Sartana - noch warm und schon Sand drauf".
Moers, 09. September 2007